ÜBER DEN AMERIKANISCHEN KOMPONISTEN CHARLES IVES
Nur wenigen Konzertgängern dürfte der Name Charles Edward Ives ein Begriff sein. In den Programmen der europäischen Konzerthäuser findet man nur selten Werke des amerikanischen Komponisten wieder. Wer war also dieser Charles Ives, dessen Lieder für Stimme und Klavier am 20. Oktober 2024, am Geburtstag des Komponisten, im Mierscher Theater erklingen?
Anfänge in Neuengland
Charles Edward Ives kommt am 20. Oktober 1874 in Danbury, Connecticut zur Welt. Sein Vater, George Edward Ives, dient im amerikanischen Bürgerkrieg als Bandleader der Second Connecticut Heavy Artillery Band, die mehr als einmal als die Beste der ganzen Unionsarmee bezeichnet wurde. George Ives unterrichtet seinen Sohn Charles zunächst in Klavier, später auch in Orgel, Violine, Cornet, Orchestration und Musiktheorie. Die Erinnerungen und Erlebnisse aus seiner Kindheit in Danbury verarbeitet Charles Ives später in seinen Kompositionen.
Im Alter von 14 Jahren wird Ives der jüngste bezahlte Organist in Connecticut. In dieser Zeit entstehen auch seine ersten Werke. Viele davon sind verschollen, aber die Partitur eines Liedes aus dem Jahre 1888 mit dem Titel Slow March ist erhalten geblieben. In diesem Stück, das einem verstorbenen Familienhund gewidmet ist, zitiert Ives Händels Trauermarsch aus dem Oratorium Saul (HWV 53). Das Zitat als Stilmittel soll in seiner weiteren musikalischen Laufbahn zu einem seiner Hauptwerkzeuge werden.
1894 beginnt Ives ein generelles Studium in Yale und belegt nebenbei auch die erst 4 Jahre zuvor eingeführten Musikkurse.
Businessman bei Tag, Künstler bei Nacht
Nach einer musikalisch fruchtbaren Zeit in Yale nimmt Ives 1898 eine Stelle als Versicherungsverkäufer an. Von nun an lebt er ein Doppelleben: „Businessman“ im Alltag, Künstler in seiner Freizeit. Nach einer in seinen Augen misslungenen Aufführung seiner Kantate The Celestial Country im Jahre 1902, gibt Ives seinen Nebenjob als Kirchenmusiker auf. Er wird sich nie wieder auf eine musikalische Stelle bewerben und die Aufführung der Kantate soll für die nächsten fünfzehn Jahre die letzte öffentliche Aufführung eines Werkes von Charles Ives bleiben.
Im Jahr 1907 gründet Ives schließlich mit seinem Freund Julian Myrick die Ives&Co. Versicherungsgesellschaft, welche später in Ives&Myrick umbenannt wird. Diese wächst schnell zu einer der größten Versicherungsfirmen der Vereinigten Staaten heran; nicht zuletzt dank Charles Ives wichtigen Innovationen im Bereich des Versicherungsverkaufs. Er wird zum Millionär – eine Tatsache, die in starkem Kontrast steht zu seiner Auffassung, Geld habe in der Kunst nichts zu suchen.
Von 1910 bis etwa 1916 schreibt Ives die meisten seiner großen Werke, darunter die 2. Klaviersonate, genannt „Concord Sonata“ und die 4. Sinfonie. Er hat sich mittlerweile so weit vom Konzertleben entfernt, dass seine Musik immer radikaler wird.
CHARLES IVES WIRD ZUM MILLIONÄR EINE TATSACHE, DIE IN STARKEM KONTRAST STEHT ZU SEINER AUFFASSUNG, GELD HABE IN DER KUNST NICHTS ZU SUCHEN.
Ein Komponist seiner Zeit
Ives wird oft als großer Vorreiter der modernen Strömungen bezeichnet. Bereits im Kindesalter experimentiert er gemeinsam mit seinem Vater mit Mikrotonalität, Bitonalität und Clustern. Während Ives schon Mitte der 1890er Jahre radikale Werke mit dissonantem Charakter schreibt, beginnt der gleichaltrige Schoenberg erst mit dem Kontrapunktstudium, Stravinsky bereitet sich auf ein Studium der Rechtswissenschaft vor und der sechzigjährige Brahms schreibt seine letzten Werke.
Mikrotonalität, Bitonalität und Cluster sind aber keineswegs Erfindungen Charles Ives, sondern kennzeichnen ihn vielmehr als Komponisten im Geiste seiner Zeit. Ives wächst in den verschiedensten Traditionen auf: das bürgerliche Danbury in Neu England mit seiner religiösen, puritanischen Geschichte, das im krassen Gegensatz zum Kapitalismus in Form der vielen Hutfabriken Danburys steht; die traditionellen Camp-Meetings, bei denen Marsch- und Volksmusik dominiert, die, wie aus seinen Kompositionen ersichtlich wird, einen bleibenden
Eindruck bei Ives hinterließen.
Auf der anderen Seite die traditionelle und moderne europäische Kunstmusik, mit der er durch sein Studium und seine eigene Konzerttätigkeit, sei es als Ausführender oder als Zuhörer, eng vertraut ist. Ives identifiziert sich zudem mit keinem geringeren als Ludwig van Beethoven, dem radikalsten Komponisten und Erneuerer der klassischen Musik des Jahrhunderts. In dieser Hinsicht ist er unter den Komponisten seiner Zeit keine Ausnahme, denn Ives Lehrer (und die seines Vaters) wurden geprägt von dieser deutsch-österreichischen Tradition, die Ideen Beethovens fortzuführen und sich so einen historischen Platz neben ihm zu sichern. In diesem Sinne reiht sich Charles Ives ein in eine Riege von Komponisten, die den Rahmen der konventionellen, zeitgenössischen Musiktheorie zu sprengen versuchten. So erfand Nicola Vicentino im Italien des sechzehnten Jahrhunderts zum Beispiel ein Harpsichord mit einunddreißig Tonhöhen pro Oktave; der Amerikaner William Billings (1746-1800) schrieb erstaunlich dissonante Chormusik und in Frankreich benutzte zu etwa gleicher Zeit Michel Corrette (1707-1795) das Medium des Clusters, um Kriegsszenen darzustellen. Auch Franz Liszt gehört mit Werken wie Nuages gris oder dem 4. Mephisto-Walzer (auch bekannt als „Bagatelle ohne Tonalität“) zu dieser illustren Gesellschaft. Das Ziel der „Erneuerung der klanglichen Mittel“, auf das sich Komponisten unterschiedlicher Herkunft immer wieder gemeinsam hinbewegen, zeigt sich in allen Epochen der Musikgeschichte.
Die Modernität von Ives Schaffen muss aber auch vor dem Hintergrund seiner musikalischen Isolation betrachtet werden. Da er sich durch seine unorthodoxen musikalischen Ideen sehr früh vom konservativen Konzertgeschehen absondert, verliert Ives das Gefühl für eine technisch ausführbare Musik. Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich der zweite Satz der 4. Sinfonie, bei dem zeitweilig zwei Dirigenten benötigt werden, die in unterschiedlichen Tempi einen jeweiligen Teil des Orchesters leiten.
Ives ist dennoch ein Komponist ganz im Zeitgeist der Jahrhundertwende. Davon zeugen die vielen Parallelen zu Gustav Mahler, Igor Stravinsky, Arnold Schoenberg und Alban Berg. All diese Komponisten vereint die historische Tradition der europäischen Kunstmusik sowie die politischen Gegebenheiten der Zeit, in der sie lebten.
Rückkehr in das amerikanische Konzertleben
Ab dem Jahr 1917 sind erstmals wieder Werke von Charles Ives bei öffentlichen Vorstellungen zu hören und es wird unter anderem seine 3. Violinsonate in der Carnegie Chamber Music Hall aufgeführt. Seine Musik wird nun auch von Musikern der New York Symphony gespielt. Zwölf Jahre nach seiner Diabetes- Diagnose, erleidet er 1918 einen weiteren gesundheitlichen Rückschlag, der eine neue Phase in seinem Schaffen einläutet. Ab diesem Zeitpunkt sind die Sorge um die Zukunft seiner Familie und die Veröffentlichung seiner Werke seine beiden Lebensobjektive; er schreibt fortan nur noch wenig neue Musik.
1947 erhält die 3. Sinfonie schliesslich den Pulitzer Prize und im Jahr 1950 dirigiert Leonard Bernstein die Uraufführung der 30 Jahre zuvor geschriebenen Sinfonie. Die über Radio übertragene Premiere ist ein riesiger Erfolg, muss jedoch aufgrund gesundheitlicher Probleme erneut in Abwesenheit des Komponisten stattfinden.
Am 19. Mai 1954 stirbt Charles Edward Ives nach einem Schlaganfall im Alter von 79 Jahren. Der Liederabend am 20. Oktober im Mierscher Theater soll Ives ausgezeichneten, vielfältigen und eigenartigen Stil einem größeren Publikum näherbringen.
114 Songs
Die 114 Songs haben in Ives Gesamtwerk einen besonderen Stellenwert, hat er sie doch zusammen mit der Concord Sonata und den dazugehörigen Essays Before a Sonata mit seinen eigenen finanziellen Mitteln drucken lassen. Die 1922 veröffentlichten Lieder enthalten Werke aus seiner gesamten Schaffensperiode (ungefähr 1888-1921) und beinhalten Jugendwerke, Studentenlieder bis hin zum politisch motivierten Lied. Ebenso vielfältig ist ihr musikalischer Inhalt: die Spannweite zieht sich vom romantischen bis zum zeitgenössischen Kunstlied. Dabei sprengt Ives den Rahmen der Besetzung des klassischen Kunstliedes: einige der Lieder beinhalten (neben Klavier und Stimme) noch andere Instrumente wie Violine und Flöte, aber auch Posaune oder Kazoo.