Jonk sinn. Momenter vu Jugendkultur.
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Das ist doch nichts für mich!? Das mag sich so manche·r Zuschauer·in denken, wenn er oder sie das inklusive Kulturprogramm des Mierscher Theaters studiert. Theaterstücke mit Deutscher Gebärdensprache1? Tanzprojekte mit Menschen mit eingeschränkter Beweglichkeit2? Konzerte mit Ertasten der Bühne für sehbeeinträchtigte Personen3? Das betrifft mich doch alles nicht!
Das Angebot von Projekten mit und für Menschen mit einer Beeinträchtigung ist heute zu einer Selbstverständlichkeit geworden und gehört zur Philosophie des Hauses. 2007 tanzten erstmals Menschen mit einer Beeinträchtigung mit professionellen Künstler·innen zusammen auf der Bühne des Mierscher Kulturhauses und erarbeiteten das Tanzprojekt blanContact, das 2009 Premiere feierte. Und sangen einige Jahre später Opernarien mit einer ausgebildeten Sopranistin4.
Die Idee inklusiver Bühnenproduktionen wurde vor mehr als 15 Jahren durch die damalige Direktorin Karin Kremer umgesetzt. „Wie erreichen wir Menschen mit anderen Fähigkeiten und Lebensformaten? Wie können wir sie unterstützen und zusammen Bühnenprojekte realisieren? Fast kein Haus in Luxemburg hat es damals gewagt, solche Projekte auf die Bühne zu bringen. Es wurde viel darüber diskutiert, aber wenig Konkretes getan. Ich hatte das Bedürfnis zu sehen, wie das Mierscher Kulturhaus etwas dazu beitragen kann. Damals sprachen wir noch nicht von Inklusion, sondern von einem zusammen sein oder arbeiten. Ich wollte mich damit auseinandersetzen, wer was kann und wie wir gemeinsam etwas bewegen können. Dank der Fondation Kräizbierg als starker Partner und allen engagierten Künstlerinnen und Künstler (Annick Pütz, Yuko Kominami, Serge Tonnar, Do Demuth, Cathy Richard und viele andere) konnten wir die ersten Schritte auf diesem Weg gehen. Nicht zu unterschätzen ist auch das Mitwirken des ganzen Teams sowie aller ehrenamtlichen Helfer.“ (Karin Kremer)
Das Publikum überzeugen hinzuschauen!
Damals, und auch heute noch, fragt sich wohl der eine oder andere Zuschauende, wie das überhaupt gehen soll, mit einem Rollstuhl zu tanzen oder als hörgeschädigte Person Theater zu spielen. Um das zu beantworten, muss man sich erst auf die Erfahrung einlassen und „kucke kommen“. Die Luxemburger Sopranistin Noémie Sunnen formuliert es sehr direkt: „Die Leute kommen nicht [zu meinen Konzerten], um einem Rollstuhl zuzuhören. Das Singen ist meine Seele, meine Flamme!“ (d’Lëtzebuerger Land, 22.12.2023).
Es gibt aber immer noch Hemmschwellen. Personen, welche sich nicht privat oder beruflich mit dem Thema Handicap befassen, finden oft keinen Bezug zu „solchen“ Projekten. Karin Kremer: „Anfangs gab es auch negative Reaktionen. Andere Zuschauer waren sehr neugierig, vielleicht weil sie selbst betroffen waren oder sich selbst als ‚anders‘ wahrgenommen haben. Es ging mir darum, das Publikum davon zu überzeugen, nicht wegzuschauen; es mit der Hand zu nehmen und ihm zu sagen: Kommt, wagt es einfach zu sehen, wie wun- derschön eine Vorstellung sein kann, auch wenn die Teilnehmer nicht so sind, wie wir sie uns vorstellen.“
Hemmschwellen nehmen und Neugierde auf unbekannte Formate erwecken ist ein wichtiges Anliegen des Mierscher Theater. Dies benötigt viel Zeit und Sensibilisierungsarbeit. Denn auch mit einem ständig wachsen den inklusiven Angebot für Erwachsene, Kinder und Jugendliche in den Bereichen Theater, Tanz, Musik, Gesang und bildende Kunst bleiben viele gängige und treue Zuschauer·innen verschiedenen Veranstaltungen fern.
„Vorurteile müssen abgebaut werden, ohne dem Publikum Schuldzuweisungen zu vermitteln. Wo kom- men unsere Vorurteile her? Es geht darum, mit Menschen zu arbeiten, die nicht der ‚Norm‘ entsprechen, die nicht in den Rahmen passen, die ‚einfach anders‘ sind, die nicht so ticken wie wir meinen, dass sie ticken müssen, weil das unsere Bequemlichkeit unterstützt.“ (Karin Kremer)
Inklusion im Mierscher Theater – Eine lange, spannende Geschichte neuer Formate!
2007 Gründung von blanContact, ein Tanzprojekt mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, das bis heute besteht.
2008 Lene Franks erste Theaterinszenierung mit Deutscher Gebärdensprache.
Es folgen u.a. Vu Näischtnotzen, Spëtzbouwen an allerlee Stiichtereien, De Pierchen an de Wollef, D’Mina an déi vergiesse Melodie, D’Mina an d’Stärefra.
2009 – heute blanContact
5 Bühnenproduktionen: blanContact, blanContact II danse entr’espace, à part être, Et le jour prend forme sous mon regard, Re V Ivre, 5 Instants Rencontres, zahlreiche Ateliers und Workshops
2013 – 2021 Koproduktion von 4 Bühnenproduktionen des collectif DADOFONIC der Ligue HMC: Zirkus Sardam, Watt elo, Herzgeflüster an Tangoschrëtt, Motion Pictures
2018 Babel. Ein Wort, ein Zeichen. Künstlerische Projekte mit begleitender Gebärdensprache. Konferenz zum Thema Gehörlos in Luxemburg
2022 – 2024 4 Gebärdensprach Stamminee mit Solidarität mit Hörgeschädigten Asbl
2023 Gründung des Netzwerkes MOSAIK Kultur Inklusiv und Herausgabe der gleichnamigen Broschüre in einfacher Sprache
2023 – 2024 Konzerte und Theateraufführungen mit Ertasten der Bühne und der Bühnenelemente: Stephany Ortega Trio, Philharmonia Schrammeln Wien, Vreckvéi
Hinzu kommen Konferenzen und Gesprächsrunden zum Thema Inklusion in der Kultur.
Sehgewohnheiten verändern: eine Herausforderung für uns alle!
Fast 25 Jahre hat es gedauert, bis dass das inklusive Festival Grenzenlos Kultur vom Staatstheater Mainz ein vielzähliges und breitgefächertes Publikum erreichen konnte. „In allen Ausdrucksformen, von Tanz über Schauspiel bis Musik […] werden unsere Sehgewohnheiten herausgefordert und unser Horizont erweitert. Und wenn das dann neben der Freude am Zusehen dazu führt, dass wir unsere Kategorien von dem, was wir für normal halten, überprüfen, ist viel erreicht.“, so Markus Müller, Intendant am Staatstheater Mainz (Grenzenlos Kultur, vol. 25, Oktober 2023).
Auch Künstler·innen mit einer Beeinträchtigung kennen das Gefühl oder das Vorurteil, dass professionelle Kunst keine Tätitgkeit „für sie“ sei.
Freischaffende Künstler·innen mit einer Behinderung gibt es in Luxemburg (noch) keine, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern. Der Weg auf die Bühne ist schwierig, und betroffene, talentierte Künst ler·innen arbeiten fast ausschließlich als Schauspieler·innen, Tänzer·innen oder Bildende Künstler·innen mit dem Statut des Salarié handicapé in sogenannten Ateliers d’inclusion professionnelle5. Behinderten Künstler·innen mangelt es nach wie vor in Luxemburg an Möglichkeiten und Gelegenheiten, den Beruf freischaffend auszuüben. Dabei sind das Talent, die Leidenschaft und die Bestimmung sehr wohl präsent.
Die Schauspielerin und Tänzerin Sandra Fernandes Fitas hat ihren Weg gefunden: „Schon seit meiner Kindheit spiele ich Theater. Später wollte ich das zu meinem Beruf machen. Aber keiner konnte mir sagen, wie. Ich aber dachte: Künstlerin wird mein Beruf sein! Seit über neun Jahren bin ich nun im collectif DADOFONIC und tanze im Ensemble blanContact des Mierscher Theater.“ Auch die 19jährige Noa Wagener steht am Anfang einer professionellen Karriere: „Ich wäre gerne eine richtige Tänzerin. Ich tanze seit langem, seit ich klein bin.“ Zurzeit arbeitet auch sie als Schauspielerin und Tänzerin im collectif DADOFONIC.
Verlässt man aber diesen geschützten Raum, wird eine Künstlerkarriere schwierig und bleibt heute fast immer noch „undenkbar“.
Weitermachen und das Publikum an sich binden
Inklusion braucht Ausdauer und Überzeugungsarbeit auf allen Ebenen, wie Karin Kremer beschreibt: „Die große Herausforderung ist: weitermachen! Die Aussage ‚wir machen weiter’ begeisterte und erstaunte damals alle betroffenen Künstler [des Projektes blanContact]. Das ‚wie’ war erst mal egal – es ging um die Bestätigung, dass im Bereich der Inklusion der Wille da ist, weitere Türen zu öffnen. Das war auch für das Mierscher Kultur- haus eine Bestätigung, allen Anstrengungen zum Trotz weiterzumachen“.
Der heutige Direktor des Mierscher Theaters, Claude Mangen, wollte noch einen Schritt weiter gehen und gründete 2023 das landesweite Netzwerk MOSAIK Kultur Inklusiv für mehr Inklusion in der Kultur. „Man benötigt Partner. Die Projekte und Initiativen müssen in ein allgemeines Konzept eingebettet sein, um das Publikum an sich zu binden“, so Claude Mangen. Mittler weile vereint das Netzwerk 16 kulturelle und soziale Institutionen, welche inklusive Kunst selbstverständlicher gestalten und Zuschauer·innen für neue Kunstformen begeistern möchten. „Vor 15 Jahren war das Mierscher Kulturhaus das inklusive ‚Ausstellungshaus‘. Wir waren das Haus, das immer wieder aus dem Rahmen fiel!“, so Karin Kremer. Heute gehört Inklusion zum Glück zum guten Ton von vielen Kulturschaffenden und kulturellen Institutionen.
Geteilte Verantwortung
Doch über eines müssen wir uns bewusst sein: ohne interessierte Zuschauer·innen können keine neuen, inklusiven Kunstformen und keine inte ressante Arbeitsmöglichkeiten für Künstler·innen mit einer Beeinträchtigung entstehen! Die Verantwortung liegt bei uns allen: „Inklusion ist auch, Werke von Menschen mit Behinderung nicht als Sondervorstellung zu sehen, sondern als Teil des ganz normalen Kulturprogramms – und hinzugehen, denn die Verantwortung für eine Gesellschaft, in der alle aktiv teilnehmen, liegt auch in den Händen all ihrer Mitglieder.“ (Lëtzebuerger Journal, Laura Tomassini, Lex Kleren, 29.02.2024).