UN LABYRINTHE SANS FIL D’ARIANE
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Eine in der bisherigen luxemburgischen Theatergeschichte ungleich originelle Veranstaltungsreihe ging zum dritten Mal – ja, wo sonst – über die Bühne. Die Rede ist von den als Biennale konzipierten Mierscher Theaterdeeg, bei denen nicht nur Stücke mit thematischem Aufhänger gezeigt werden, sondern dem Austausch über das Wesen und die Perspektiven der Bühnenkunst sowie der dramatischen Literatur eine besondere Rolle eingeräumt wird – Rundtischgespräche, Lesungen, der direkte Dialog mit Autoren, Regisseuren oder Schauspielern und nicht zuletzt die sich zu einer Tradition der ästhetik-theoretischen Standortbestimmung, aber auch des praxisbezogenen Ausblicks etablierten Rede vom Theater erlauben dem Publikum einen Einblick in die Entwicklung des Theaters und in den Schaffensprozess der diversen „créateurs“.
Bei der dritten Ausgabe stand das Jugendtheater im Mittelpunkt. Über theaterästhetische Ansprüche, Bedürfnisse und Erfordernisse junger Menschen sollte nicht nur debattiert werden – sie kamen selbst zu Wort, als Künstler auf der Bühne wie auch als Rezipienten im Publikum. Diskutiert wurde, woran sich überzeugendes Theater für ein junges Publikum messen lässt und wie Nachwuchskünstler sich in der Theaterlandschaft behaupten.
Das diskursiv-theoretische Rahmenprogramm wurde maßgeblich von Gastdramatiker Raoul Biltgen geprägt, zweimal rückte er in den Fokus: einmal anlässlich der Ouvertüre, bei der er die Rede vom Theater hielt, und das zweite Mal zusammen mit Olivier Garofalo, Tullio Forgiarini und Jan Jaroszek bei der Finissage, d.h. dem von Henning Marmulla moderierten Podiumsgespräch. Zentrale Causa: Was ist Jugendtheater und wie kann es gelingen?
Über das Theater für junges Publikum, gelbe Latzhosen, grüne Hüte und rote Ukulelen sowie den sich selbst im Weg zur Kunst stehenden Künstler – so lautet der Titel von Raoul Biltgens essayistischer Ansprache. Biltgens Rede, bewusst in lockerem, ironisch-sarkastischem Sprechgestus verfasst, offenbart sich als dramatischer Einakter: einer monologischen Innenschau über sein Verhältnis zum Kinder- und Jugendtheater sowie dessen Bedeutung in der volatilen Kulturindustrie. Biltgen oszilliert zwischen kritischer Nabelschau über sein Dasein als Schauspieler und Dramatiker sowie einer Analyse der im Kinder- und Jugendtheater weiterhin bestehenden – bürgerlichen – Konventionen. Hier darf der mahnende Zeigefinger gegenüber der Erwachsenenwelt sowie gegenüber faulen oder übereifrigen Pädagogen, den „Erbfeinden des Künstlers“ (Peter Hacks), die den Theaterbesuch entweder als „Freistunde“ nutzen und „herumlümmeln[d]“ oder durch strenge „Pscht“-Laute die Reaktionen der Schüler zu unterbinden versuchen, nicht fehlen.
Biltgen lehnt ein überpädagogisches Theater ab, da es die Heranwachsenden nicht ernst nimmt und ihnen ein verschultes Theaterbild vermittelt. Überhaupt läuft ihm die Isolierung der Bühnenkunst von der Welt und die Parzellierung der Texte in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenstücke, so als müsste man Kunst in Referenzrahmen pressen, völlig zuwider. Biltgen hat Recht – derartiges Theater ist eine Verhohnepipelung der Ansprüche eines Publikums, das sich in derselben von sozialen, ökonomischen und ideologischen Widersprüchen geprägten Gesellschaft zurechtfinden muss wie Erwachsene. Auf diese Weise wird Kinder- und Jugendtheater schnell zu einer Art Tingeltangel degradiert, aber das „bloß Theatralische nämlich macht kein Theater“ (Hacks). Junge Zuschauer sollten ästhetisch nicht eingefriedet werden, ihrer Aufnahmefähigkeit ist mehr zuzutrauen – das Drama erweist sich als die bessere Unterhaltung. Dazu Biltgen: „Meine Haltung ist klar: ich gebe lediglich die Empfehlung einer Altersbegrenzung nach unten ab, nie nach oben.“ Mit Peter Hacks könnte man hinzufügen, dass ein junges Publikum sprachlichen Experimenten, auch komplexeren, ausgesetzt werden kann: „Es hat einen ungeheuren Sinn für (…) sprachlichen Witz, und es würdigt das Geistreiche mit weniger Mühe als die Alten, die davon nur die spärlichen Reste behalten haben, welche man in Bett und Firma benötigt.“
Biltgen weiß, dass weder vielschichtige Sprache noch relevante Themen automatisch Erfolg garantieren. Denn Theater ist Praxis: Erst durch die Performance auf der Bühne, durch das Spiel der Schauspieler vor Publikum – und den Austausch mit diesem – entsteht jene Kunst-Kommunikation, die ausschließlich das Theater zu leisten vermag. Nur so kann der vom Autor intendierte Prozess ausgelöst werden, d.h. „etwas in den Köpfen und den Eingeweiden lostreten. Eigene Gedanken und Gefühle.“ Das müssen nicht die des Dramatikers sein. Kinder- und Jugendtheater funktioniert, wenn die Kreativität der Kinder freigesetzt wird und sie selbst anfangen zu interpretieren. Der Autor fühlt sich verpflichtet, indem er ihnen Raum für eine wertfreie Rezeption lässt. Der kindliche Verarbeitungsprozess folgt eigenen Kategorien, jedenfalls sollte er von Erwachsenen weder angestachelt noch geleitet werden – das führt zumeist zu einem plumpen Zerreden des Erlebten. Bedeutet dies, dass didaktische Stücke grundsätzlich nichts taugen? Biltgen sträubt sich gegen Lehrtheater, dennoch kann man – mit Peter Hacks – einwenden, dass Theater für junges Publikum funktional lehrhaft sein kann, ohne belehrend zu sein. Es darf auf Verfremdungseffekte und die Darstellung von Widersprüchen setzen: „Ein Kind, dessen Unterricht mit Zweifel beginnt, wird bei jener Verschmelzung von Erfahrung und Zweifel enden, welche Anpassung heißt. (…) Es verlangt nur eines: die sittlichen Nachrichten, die man ihm anbietet, sollen keine anzweifelbaren, sondern behauptete sein. (…) Das Kind darf sich an Falschem reiben, aber so, dass es an dessen Stelle das Wahre setzen kann, nie so, dass es verunsichert wird. (…) Kinder vergöttern Ironie – solange sie durchschaubar bleibt. Das sich selbst verspottende romantische Märchen ist dem Kind unangenehmer als der Zeigefinger.“ Das postmodern-solipsistische „Anything goes“ erzeugt kein kritisch-dialektisches Denken, sondern meist Anpassung an bestehende Zustände.
Raoul Biltgen zweifelt am Schluss seiner Rede – ein dezent selbstinszenatorisches Retardement in diesem rhetorischen „Einakter“ –, ob er die Zuhörer zum Nachdenken über das Theater für Heranwachsende inspiriert habe. Ja, hat er. Wenngleich er sich gegen schubladisierendes Theoretisieren sträubt, ist es ihm gelungen, das Paradigma vom antipaternalistischen Theater der Jugendresonanz und der intergenerationellen Begegnung aufzustellen. Zugleich lädt der Text zum Widerspruch ein. Wer es stilistisch pointierter und theoretisch konziser möchte – Biltgen: „(…) will ich gar nicht“ – dem sei der Essay „Was ist ein Drama, was ist ein Kind?“ von Peter Hacks empfohlen.
„JUNGE ZUSCHAUER SOLLTEN ÄSTHETISCH NICHT EINGEFRIEDET WERDEN, IHRER AUFNAHMEFÄHIGKEIT IST MEHR ZUZUTRAUEN – DAS DRAMA ERWEIST SICH ALS DIE BESSERE UNTERHALTUNG.“
Theoretisch abgerundet wurde die Biennale mit einem Podiumsgespräch im CNL, bei dem Biltgens Essayfrage aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden sollte.
Die antididaktische Keule lässt sich kinderleicht wuchten. Geschwind entwickelte sich unter den Diskutanten, zwei Dramatikern (Biltgen und Forgiarini), einem Schrifsteller/Dramaturgen (Garofalo) und einem Schauspieler (Jaroszek), ein Einverständnis darüber, dass Jugendtheater den Zuschauern nichts vorschreiben darf. In der Tat: Wenn man pädagogisches Theater karikatural aufs Kasperltheater herunterbricht, mag es verständlich sein, doch auch hier gilt es vorsichtig zu sein, denn „die Gesetze des Bühnengerechten zeigen sich im Kaspertheater am reinsten“ (Hacks). Die Idealismuskritik kulminierte darin, dass das Theater sich mit allzu durchsichtigen Botschaften zurückhalten müsse, da es sonst zur Lehranstalt mutiere. Es zeigte sich zudem eine Nuance der Ablehnung dramatischer Klassiker, da sie ggf. altbackene Vorstellungen generieren (Jaroszek) oder als grelle Aktualisierungsversuche enttäuschen und die Jugend abschrecken könnten.
Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer zudem darin, dass es vor allem darauf ankommt, Jugendliche nicht mit Fantasiekitsch zu berieseln. Vielmehr verlangen sie nachvollziehbare Stoffe, die ihre Lebensrealität betreffen, sie also als werdende Menschen ernst nehmen; ebenso gehören authentische Figuren und eine ansprechende Sprache auf die Bühne. So kann Jugendtheater funktionieren. Doch wie bekommt man im Zeitalter der Digitalisierung die jungen Leute ins Theater? Hier zeigte sich, dass es oftmals nicht ohne pädagogischen Fingerzeig funktioniert, gerade auch bei Abendveranstaltungen in städtischen Theatern. Die jungen Leute brauchen einen Lehrer oder Erwachsenen als „Zugpferd“ (Forgiarini), der ihnen die Bühnenwelt eröffnet. Gerade dann aber würden die sozialen Unterschiede wiederum sichtbar: Aus kulturellen und finanziellen Gründen könnten sich vorrangig Akademikerkinder einen solchen Abend leisten – Kulturpass hin oder her. Womit man wieder bei der Vermittlerrolle der Bildung angelangt ist – und damit auch jener der „Erbfeinde“.
Dem Merscher „Theatermacher“ Claude Mangen gelang es, den diskursiven Knoten, glücklicherweise kein gordischer, mit einer Schlusseinlage zu entflechten. Einerseits müssen Künstler wie Lehrer sich von allzu engen Vorstellungen von Pädagogik lösen – ganz ohne sie geht es nicht. Darüber hinaus existieren viele, auch inklusive Konzepte, welche die Jugend für die Bühne begeistern können. Als Vorbild nennt Mangen das von Marcel Cremer konzipierte autobiografische Theater, welches Inszenierungen auf verschiedenen Abstraktionsebenen erlaubt. Andererseits gilt es, eine bessere Koordination zwischen Kultur- und Unterrichtsministerium herzustellen. Auf vorhandene Lösungsalternativen könne zurückgegriffen werden, nur bedarf es einer Mobilisierung der nötigen Ressourcen und einer Verankerung in den Curricula, denn ohne einen sanften „Theaterzwang“ geht es nicht. Das Bildungsministerium sucht bekanntlich nach Wegen, eine bessere „Screen-Life-Balance“ herzustellen – bitte, nur zu, das Jugendtheater bietet sich an. Pädagogische Konzepte liegen vor, es fehlt „nur“ noch der aufrechte Gang seitens der Politik – in Zeiten spätkapitalistischer Krisen allerdings ein frommer Gedanke.